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Zeitschrift für Hochschuldidaktik Nr. 1-2/1996:
Qualität der Hoschschullehre

Marianne SPRINGER-KREMSER |

Evaluierung der Wahlausbildung "Fokussierende Beratung / Kurzpsychotherapie"
Evaluation of the Seminar: "Focal Counselling / Short Term Psychotherapy" for Medical Students

1. Einleitung: Die Aufgaben der Evaluationsforschung

Die Evaluationsforschung versucht, Planung und Durchführung von Aktivitäten zur Lösung gesellschaftlicher Probleme auf eine rationale Basis zu stellen. Im Kernbereich befaßt sie sich mit konkreten und abgrenzbaren Projekten, Maßnahme oder Aktivitäten, welche als Programmevaluation bezeichnet wird. Mittels Evaluation soll festgestellt werden, welchen Erfolg oder Mißerfolg eine bestimmte Maßnahme, z.B. eine Lehrveranstaltung, hat. Darüberhinaus sollen Handlungsalternativen erkannt werden, durch die ein effizienter Einsatz von ressourcen gewährleistet ist. Die Evaluationsforschung schließt in der Regel die Bewertung der praktizierten Problemlösungen mit ein. Unter Evaluationsforschung versteht man "die explizite Verwendung wissenschaftlicher Forschungsmethoden und Techniken für den Zweck der Durchführung einer Bewertung" (WITTMANN, 1985, S.17).

Evaluationsforschung bedeutet also den gezielten Einsatz sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden zur Verbesserung von Planung, zur Bestimmung von Effektivität sowie zur laufenden Überwachung; dies besonders im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen.

Von den vielen Möglichkeiten, die unterschiedlichen Formen von Evaluation zu klassifizieren, sei die Kategorisierung von SHADISH und EPSTEIN (1987) herangezogen. Sie konnten vier relativ klar interpretierbare Muster darstellen:

  • Ein akademisches Muster. Dieses ist gekennzeichnet durch: Orientierung an Grundlagenforschung und an längerfristig gültiger Theoriebildung und Problemlösung. Gütekriterien werden von der relevanten Literatur oder von der Bedeutung der untersuchten Programme bezogen. Methodisch dominieren Sekundäranalysen oder traditionelle quantitative Methoden. Die Ergebnisse werden an die Öffentlichkeit oder an wissenschaftliche Journale berichtet. Man könnte den Einsatz von verschiedenen Rückmeldungsweisen, schriftliche Befragungen, mündliche Befragungen, Gruppendiskussionen etc. über Lehrveranstaltungen hier als Beispiel anführen.

  • Ein prozeß- und nutzenorientiertes Muster. Dieses ist gekennzeichnet durch Finanzierung durch Klienten und ist auf Verbesserung eines Programms gerichtet. Die Evaluatoren definieren ihre eigene Rolle als Teammitglieder oder Katalysatoren vor Ort. Gütekriterium ist der Informationsbedarf der interessierten Gruppen und die Informationsquellen sind intensive Beobachtung oder Interviews mit Beteiligten. Die Nützlichkeit soll durch intensiven Kontakt während des Prozesses der Evaluation gestützt werden. Hier könnte man auch als Beispiel Prozeßanalysen oder informelle Feedback-Informationen über Lehrveranstaltungen anführen.

  • Ein technographisches entscheidungs- und planungsorientiertes Muster. Dieses ist gekennzeichnet durch: die Evaluationentscheidung wird erst nach Abwägung eines resultierenden finanziellen Nutzens der Aktivität getroffen. Die Rolle der Evaluatoren wird definiert als die außenstehender "Diener" oder Programmbetreiber. Fragen und Probleme werden auf der Basis von anstehenden Entscheidungen unter Berücksichtigung von Gesetzgebung formuliert. Es gibt keine Referenz für bestimmte Methoden.

  • Ein "externes Referee-Muster". Das Ziel ist es, ein Urteil über die Effektivität und den Wert des Programms zu erhalten, die Rolle der Evaluatoren wird definiert als die von methodologischen Experten, Erziehern und/oder Richtern. Methodisch werden Materialien aus dem Programm-Monitoring und die traditionellen quantitativen Methoden bevorzugt. Die Ergebnisse werden in schriftlichen und mündlichen Berichten vermittelt und schließen Empfehlungen ein.

Diese verschiedenen Muster geben ein zusammenfassendes Bild der äußerst verschiedenen Grundformen, die Evaluation in der Praxis annehmen kann. Dem in der Folge vorzustellenden Projekt liegt ein Muster zugrunde, das einerseits als akademisches Muster definiert werden kann, andererseits aber auch als ein prozeß- und nutzenorientiertes Muster. Letzteres insbesondere durch die Forderung nach intensivem Kontakt mit den Betroffenen zu evaluierenden während des Prozesses der Evaluation.

Der Überblick über die verschiedenen Zugangsweisen zur Evaluation sollte vor allem auch dazu dienen, klarzustellen, daß auch völlig andere Formen der Evaluation denkbar gewesen wären, wie z.B. eine externes Referee-Muster. Letzteres wäre aber mit einem finanziellen Aufwand verbunden gewesen, ebenso wie eine entscheidungs- oder planungsorientiertes Muster. Da eine Drittmittelfinanzierung zum Zeitpunkt der Evaluation der Lehrveranstaltung eher auszuschließen war, mußten wir uns an ein Modell halten, welches eine solche Drittmittelfinanzierung nicht erfordert.

2. Die zu evaluierende Lehrveranstaltung

2.1 Die Wahlausbildung "Fokussierende Beratung / Kurzpsychotherapie"

Die Universitätsklinik für Tiefenpsychologie und Psychotherapie bietet eine Wahlausbildung "Fokussierende Beratung/Kurzpsychotherapie" an, welche von den StudentInnen ein sowohl inhaltlich als auch zeitlich aufwendiges Engagement erfordert.

Das didaktische Programm der Wahlausbildung fordert von den Studenten Ein- bis zweimal pro Semester teilnehmende Beobachtung in der psychosomatischen Ambulanz der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, jeweils einen Mittwoch vormittags. An dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs über Organisationsform und Funktionsbereiche dieser Spezialambulanz erforderlich.

Der Konzeption nach handelt es sich um ein psychosomatisch-psychotherapeutisches Liaisonmodell, welches von der Klinik für Tiefenpsychologie in der Klinik für Frauenheilkunde etabliert wurde. Liaisonmodelle streben eine strukturelle Verankerung im Alltagsbetrieb an. Dazu gehört eine regelmäßige und substantielle Präsenz der psychosomatischen Psychotherapeuten vor Ort, zumindest einmal pro Woche, unabhängig von speziellen Anfragen. Demgegenüber entspricht das Konsiliarmodell der klassischen ärztlichen Konsultation: psychosomatisch-psychotherapeutische Versorgung erfolgt auf individuelle Anfrage bzw. Benachrichtigung und kann für bestimmte Gruppen, wie wir sie z.B. für Genitalkarzinompatientinnen anbieten, vertraglich vereinbart sein. Das bedeutet, daß eine Assistentin der Klinik für Tiefenpsychologie, die sowohl am Mittwoch Vormittag im Rahmen des Liaisonmodells an der Frauenklinik präsent ist, auch auf Abruf durch die Frauenklinik für bestimmte Patientinnen oder bestimmte Situationen zur Verfügung steht. Die Funktionsbereiche dieser Spezialambulanz umfassen patientenzentrierte Aktivitäten, Forschungsaufgaben und didaktische Aktivitäten.

Bei den patientenzentrierten Aktivitäten sind direkte und indirekte Patientenversorgung zu unterscheiden. Die direkte Versorgung, also jene, bei welcher die StudentInnen auch anwesend sind, leistet dreierlei: Problemdefinition/Triage-Funktion: diese wird häufig mittels einer einmaligen Beratung abgedeckt und kann z.B. zu einer Überweisung zu anderen psychosozialen Einrichtungen, zu niedergelassenen Einzelpsychotherapeuten in Paar- oder Familientherapie zur Folge haben. Weiters leistet die direkte Patientenversorgung ein psychosomatisch-psychotherapeutisch diagnostisches Erstinterview und als drittes Angebot psychoanalytisch Kurzpsychotherapie oder Fokaltherapie. Die angewandten psychotherapeutischen Techniken stehen unter zwei Prämissen: die Ambulanz ist so konzipiert, daß kurfristige Beratungs- und Behandlungsstrategien in Frage kommen. Der psychoanalytische Erfahrungs- und Ausbildungshintergrund der in der Ambulanz tätigen bringt mit sich, daß sich die Beratungs- und Therapiekonzepte an der psychoanalytischen Theorie und Technik orientieren. Die angewandte Methode ist aber primär eine problemorientierte. Problemorientiertheit bedeutet in diesem Fall zentriert um Fragen der Reproduktion, des Körperschemas, der Weiblichkeit und Sexualität. Diese Problemorientiertheit hat auch zu Formulierungen von spezifischen Erfordernissen für die Behandlung der Patientinnen in diesem Setting geführt. Diese spezifischen Erfordernisse sind:

  1. Aktivität des Therapeuten: Bei dieser Aktivität handelt es sich um eine inhaltliche Aktivität, welche nicht oder kaum in Konflikt gerät mit den Forderungen, die CREMERIUS für die technische Neutralität des Therapeuten aufgestellt hat (Literatur);

  2. das Erforschen der Laienätiologie oder subjektiven Krankheitstheorie der Patientinnen;

  3. das Erstellen einer Diagnose der psychischen Struktur;

  4. Aufstellung eines Behandlungsplanes: Dieser Behandlungsplan, der gemeinsam mit den Patientin aufgestellt wird, betrifft sowohl die psychotherapeutischen Aktivitäten in der Ambulanz, als auch andere notwendige ausständige klinisch-medizinisch diagnostische oder Behandlungsverfahren;weiters hat sich das Einführen der folgenden Parameter in die psychoanalytische Kurzpsychotherapie als sinnvoll erwiesen;

  5. eine kontinuierliche Beachtung und Bearbeitung der Widerstände, welche die therapeutische Arbeit stören;

  6. zusammenfassen einer Therapiesitzung jeweils am Ende dieser sowie das Planen der nächsten Sitzung und das Stellen von Hausaufgaben (z.B. Führen eines Schmerztagebuchs) fördert unserer Erfahrung nach die Compliance stark;

  7. die Beendigung des Kontaktes mit der Ambulanz im Auge behalten und die Patientinnen kontinuierlich darauf hinweisen;

  8. Selbsthilfe betonen sowie weitere Psychotherapie - in einem anderen Setting - anzubieten, falls erforderlich.

Es handelt sich um ein sehr strategisches und strukturiertes Vorgehen mit viel kognitiven Elementen (SPRINGER-KREMSER et al., 1994).

Die Studenten sind bei einem Erstgespräch und/oder einer weiterführenden Therapiesitzung anwesend. Diese Anwesenheit erfordert eine konzentrierte Aufmerksamkeit, da die Studenten nach Ende dieser Sitzung einen vorgegebenen Fragebogen aus dem Gedächtnis über die Sitzung mit der Patientin ausfüllen müssen (Anhang 1). Dieser Fragebogen bezieht sich auf die im nächsten Kapitel beschriebenen Lernziele der Lehrveranstaltung.

Die zweite Anwesenheitsverpflichtung der Studenten bezieht sich auf eine 14-tägig stattfindende Seminarveranstaltung, in welcher die Erfahrungen der teilnehmenden Beobachtung einschließlich der Audiokassetten, die während des psychotherapeutisch-diagnostischen Erstinterviews mit der Patientin aufgenommen werden, diskutiert werden und die von den Studenten zu der jeweiligen Fallgeschichte passende und selbst ausgewählte Literatur vorgestellt wird.

2.1 Die Lernziele dieser Lehrveranstaltung

Diese Lernziele können wie folgt beschrieben werden:

  • Die Fähigkeit, eine sozio-psycho-biographische Anamnese zu erheben.

  • Das Erlernen einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Diagnostik, welche sich an einem Strukturmodell der Persönlichkeit orientiert.

  • Entwicklung eines Arbeitsmodells der psychologischen Organisation der Patientin.

  • Erstellen eines Behandlungsplanes.

  • Annäherung an die psychotherapeutischen Elemente der Psychoanalyse: Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene, Widerstand und therapeutische Neutralität.

  • Überweisung in Psychotherapie als Prozeßgeschehen.

Die Lernziele scheinen sehr anspruchsvoll: wir nehmen nicht an, daß die Studenten imstande sind, nach Absolvierung dieser einjährigen Wahlausbildung alle diese Aktivitäten selbständig durchzuführen; aber wir nehmen an und es hat sich herausgestellt, daß diese Annahme gerechtfertigt ist, daß die Studenten sich diesen Lernzielen annähern können und den unglaublich schwierigen Paradigmenwechsel von der Aktivität, dem Handlungszwang, mit dem sie sonst im Medizinstudium konfrontiert sind, zu einer selektiven Aktivität, zu der Fähigkeit die Autonomie der Patientinnen zu respektieren, sehr wohl imstande sind. Weiters lernen die Studenten die Bedeutung der interdisziplinären Kooperation, der Kooperation von Psychotherapeuten/Psychiatern einerseits mit FrauenärztInnen, PhysikotherapeutInnen, Krankenschwestern, Hebammen etc. andererseits (SPRINGER-KREMSER, 1991).

3. Das Evaluationsinstrument: der Fragebogen und die Gruppendiskussion

Der semistrukturierte Fragebogen für die Studenten enthält Fragen zu folgenden Themen: der Selbstdarstellung der Patienten, der Art der Zuweisung, der Zuweisungsdiagnose, der Vorstellung der StudentIn von der Motivation der Patienten, wie weit der Sinn der Zuweisung für die Patienten verständlich war oder im Laufe des Gesprächs verständlicher wurde; Fragen zur Diskrepanz zwischen Zuweisungsbefund und Diagnose und den Beschwerden der Patienten; weiters Fragen betreffend die biographische Anamnese, also wichtige Daten und Ereignisse, besonders kritische Lebensereignisse (stressful life-events). Dann werden die Beschwerden abgefragt, eine Beschreibung der Beschwerden und Symptome, deretwegen die Patientin Hilfe sucht; den Zeitpunkt des ersten Auftretens dieser Beschwerden, fragliche Zusammenhänge zwischen kritischen Lebensereignissen und dieser ersten Manifestation; die Veränderungen, welche die Beschwerden oder Symptome im Laufe der Zeit erfahren haben; schließlich warum ausgerechnet zum jetzigen Zeitpunkt Hilfe gesucht wird, weiters alle Vorbehandlungen (Medikamente, ambulante und stationäre Behandlungen, Psychotherapien etc.). Eine weitere Frage ist die nach der Laienätiologie oder der subjektiven Krankheitstheorie der Patientin, ob die Patientin einen Zusammenhang zwischen dem Symptom und sozialen oder emotionalen Ereignissen herstellen kann, schließlich eine vorläufige Diagnose nach dem ICD-Code, wobei einzelne Diagnosen den Studenten vorgegeben werden und zum Abschluß die Frage nach der subjektiven Befindlichkeit der Studenten während des Interviews, also ihre subjektiven Reaktionen auf die Patientin und deren Verhalten, deren Selbstdarstellung etc.

Eine besondere Bedeutung haben wir dem Lernziel der Annäherung an die wichtigen therapeutischen Elemente der Psychoanalyse beigemessen: Übertragung, Gegenübertragung; Widerstand und therapeutische Abstinenz. Die Frage nach der subjektiven Befindlichkeit der StudentInnen in ihrer Rolle als teilnehmende Beobachter bei der Sitzung mit einer bestimmten Patientin gibt Informationen über die Vorstellungen von Übertragung und Gegenübertragung sowie über die Impulse, die therapeutische Abstinenz oder Neutralität nicht einzuhalten.

Übertragung bezeichnet in der psychoanalytischen Therapie jenen Vorgang, in welchem die unbewußten Wünsche an bestimmten Objekten im Rahmen eines bestimmten Beziehungstypus - hier einer fokussierenden Beratung, eines Erstinterviews -, der sich mit diesen Objekten ergeben hat, aktualisiert werden. Es handelt sich dabei um die Wiederholung kindlicher Muster, die mit einem besonderen Gefühl von Aktualität erlebt werden. Unter Gegenübertragung verstehen wir dementsprechend die Gesamtheit der unbewußten Reaktionen des Therapeuten bzw. der teilnehmenden StudentInnen auf die Patientin und ganz besonders auf deren Übertragung. Wie kommt hier nun die technische Neutralität ins Spiel? Subsummiert man die Schwierigkeiten, die man in der therapeutischen Situation im Umgang mit Patienten ganz allgemein haben kann unter den Begriff der Gegenübertragung, so ist die technische Neutralität das beste Mittel, die Gegenübertragung so zu handhaben, daß man seine Arbeit erfolgreich weiterführen kann. Die grundsätzliche Verpflichtung auf die technische Neutralität als Basis jeder therapeutischen Arbeit, d.h. auf das, was an der technischen Neutralität methodenimmanent ist, hilft, die Gegenübertragung unter Kontrolle zu halten. Diese technische Neutralität verlangt von den StudentInnen und Therapeuten nach CREMERIUS (1984) zweierlei: erstens Impulse und Gefühle, gleich welcher Art, zunächst einmal zu zügeln und daraufhin zu prüfen, inwieweit sie aus der eigenen Konflikthaftigkeit erwachsen oder Indikatoren von unbewußten Prozessen im Patienten sind; und zweitens alles, was man sagt und tut, daraufhin zu erforschen, ob es im Interesse der Patientin oder im eigenen Interesse gesagt oder getan wird bzw. aus der eigenen Konflikthaftigkeit heraus, oder um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Dieses Erforschen der eigenen Impulse, d.h. vor allem die Versagung unbedachter Spontaneität verschafft am ehesten Klarheit über die unbewußten Quellen derselben.

Als Widerstand kann alles bezeichnet werden, was die therapeutische Arbeit hindert: z.B. Unsicherheit, Angst über die Zuweisung an eine Ambulanz, die als "Psycho...." deklariert ist, läßt viele Patientinnen anfangs einmal unkooperativ erscheinen. Vor allem die Vorstellung, nicht ernst genommen zu werden mit körperlichen Beschwerden, für verrückt gehalten zu werden etc. spielen eine wichtige Rolle als initialer Widerstand.

Die Leidensinhalte der Patientinnen dieser Ambulanz haben viel mit Sexualität und Intimität zu tun; die besondere Situation bietet aber noch eine Unzahl von Möglichkeiten für Therapeuten und teilnehmende Studenten Macht, Glanz, geistige Überlegenheit, sexuelle Neugier, zu suchen und auch zu finden. Es gibt also ein Unzahl von Bedürfnissen auf Seiten von Therapeuten oder der teilnehmenden Studenten, welche nach Befriedigung suchen können und in dieser therapeutischen Situation gut kontrolliert werden müssen.

Diese Form der Annäherung an Patienten ist so konträr zu allem, was Medizinstudenten während ihres Studiums vermittelt wird - man denke an die Notwendigkeit eines Handlungszwanges, um lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen -, daß sich daraus zwingende eine intensive Vorbereitung der Studenten auf die teilnehmende Beobachtung und ein Reflektieren dessen, was während der teilnehmenden Beobachtung wahrgenommen wird, ergibt. Dieses Reflektieren geschieht in der Gruppe der Studenten, die Studenten thematisieren ihre eigene Befindlichkeit, vor allem ihre affektive Befindlichkeit: Dies bringt häufig eine heikle Dynamik in die Arbeitsgruppe. Eine Grenzziehung zu Selbsterfahrung erweist sich immer wieder als notwendig und es ist oft schwierig, die Ballance zu halten zwischen seminaristischer Gruppenarbeit, um die es ja schließlich geht, und Elementen der Selbsterfahrung andererseits.

Die Studenten werden auch angehalten, das Tonband, welches während der Sitzung mit der Patientin aufgenommen wurde, sich zuhause anzuhören und bestimmte Passagen, wie z.B. therapeutische Interventionen zu markieren, um diese dann in der Gruppe diskutieren zu können. Alternative Interventionsmöglichkeiten werden dann in der Gruppe vorgeschlagen und die jeweiligen Konsequenzen einer anderen Intervention gemeinsam durchphantasiert. Diese Arbeitsweise bringt eine konstruktive Kritik für die Therapeutin mit sich. Die Anwesenheit der Studenten ist durchaus hilfreich als zusätzliches Korrektiv für die eigene Gegenübertragung.

Es kann vorkommen, daß eine Patientin entweder verbal die Anwesenheit von Studenten ablehnt - das wird selbstverständlich respektiert - oder aber durch nonverbales Verhalten, wie z.B. das offensichtliche Zurückhalten von Information, deutlich signalisiert, daß ihr die Anwesenheit von Studenten unangenehm ist, dann wird die Patientin daraufhin angesprochen und ihr die Arbeitsweise der Ambulanz genauer erklärt. Sollte sie weiterhin darauf bestehen, mit der Therapeutin allein zu sprechen, so wird ihr Wunsch respektiert. Häufig ist es aber so, daß sich die Patientinnen damit zufriedengeben, daß diese besondere Situation klar angesprochen wird. Die Studenten müssen auf diese Situationen vorbereitet werden.

Ein wichtiger Lerngewinn im Rahmen des Erhebens der biographischen Anamnese ist die Erfahrung, daß Patientinnen mit einem körperlichen Symptom primär körperliche Erklärungen erwarten und psychologische Interpretationen unerwünscht sind. Die Studenten lernen, daß bei beharrlichem Festhalten an der körperlichen Symptomatik und allen diese Symptomatik begleitenden Umständen die Patientin sich allmählich ermutigt fühlt, ihre eigene Vorstellung über jene Faktoren darzulegen, welche sie als mitverursachend oder aufrechterhaltend für ihre körperliche Symptomatik ansieht. Es sind dies entweder life events oder auch bestimmte Affekte wie Angst, Trauer, Scham etc., welche eine Brücke zu psychologischen Inhalten darstellen.

4. Die Rückmeldungen über den Lerngewinn der StudentInnen

Es muß unterschieden werden zwischen den informellen Rückmeldungen in den Seminarsitzungen über die Erfahrungen der teilnehmenden Beobachtung und den Ergebnissen der Auswertung von Fragebögen. So zeigte sich z.B. an der Auswahl der Passagen von den Tonbandaufnahmen, welchen Gesprächsinhalten von den Studenten besondere Bedeutung beigemessen wurde. Der Lerngewinn durch den Gruppenprozeß, die kritisch konstruktiven Fragen von den KollegInnen darf nicht unterschätzt werden: es war mitunter möglich, an einer kurzen Analyse des laufenden Gruppenprozesses zu zeigen, daß sich in der Gruppe etwas wiederholt, was sich in der therapeutischen Sitzung in der Ambulanz mit der Patientin abgespielt hatte; derartige Sequenzen halfen den StudentInnen zusätzlich, die Abwehrmechanismen der Patientinnen zu verstehen.

Wirklich interessant sind jedoch die Ergebnisse der empirischen Auswertung von über 60 Fragebögen, welche von den StudentInnen über ihre teilnehmende Beobachtung ausgefüllt wurden.

Die Darstellung dieser Ergebnisse soll mit der letzten Frage, nämlich jener über die subjektive Befindlichkeit, begonnen werden.

Die von den Studenten gemachten Angaben (narrative Angaben) über die subjektive Befindlichkeit während ihrer teilnehmenden Beobachtung, wurden in zwei Hauptkategorien, nämlich Gegenübertragungsreaktionen und Impulse, die therapeutische Abstinenz aufzugeben, gebündelt. Bei den Gegenübertragungsreaktionen wurde unterschieden zwischen:

  • überwiegend Widerstandsreaktionen,

  • überwiegend Betroffenheit,

  • überwiegend starke Identifikation,

  • überwiegend Hilflosigkeit, Machtlosigkeit.

4.1. Zu den Gegenübertragungsreaktionen

Einige Widerstandsinhalte:

"Der Altersunterschied zwischen mir und der Patientin macht das Zuhören unmöglich". "Die Patientin ist dumm, macht mich ungeduldig". "Ich kann kein psychologisches Problem sehen..."

Inhalte zur Betroffenheit:

"Ich bin aufgeregt, peinlich berührt". "Das Wertsystem der Patientin ist mir nicht nachvollziehbar". "Ich fühle mich in meiner Beobachterrolle unsicher". "Ich bin so neugierig". "Ich spüre den Druck, den die Patientin ausübt, fast körperlich". "Ich fühle mich erotisch angezogen von der Patientin".

Inhalte zur Identifikation:

"Dieselben Probleme habe ich auch". "Auch mir ist es als Kind so gegangen". "Um Gottes Willen, ich bin ja selber auch schwanger..."

Inhalte zu Hilflosigkeit, Machtlosigkeit:

"Das Weinen macht mich so hilflos". "Meine Hilflosigkeit der Situation der Patientin gegenüber kann ich schlecht ertragen". "Die Ohnmachtsgefühle sind nicht zum aushalten".

Einige Beispiele für Probleme mit der Abstinenz:

"Ich hätte mir als Patientin mehr Aktivität gewünscht". "Ich hatte den Wunsch nach mehr Kontakt mit der Patientin, nach persönlicher Nähe, sie war so interessant..." "Ich hätte die Patientin gerne tröstend gestreichelt". "Ich wünschte mir die Patientin zur Freundin". "Die Patientin bräuchte auch außerhalb der Sitzung Kontakt... Ich hätte ihr das gerne angeboten".

Die Abbildung 1 zeigt eine Übersicht über die Selbstdarstellung der StudentInnen.

Abbildung 1: Übersicht zur Selbstdarstellung der StudentInnen

Art der GegenübertragungsreaktionAnzahl der StudentInnen
Widerstand12
Betroffenheit26
Starke Identifikation10
Hilflosigkeit, Machtlosigkeit7
Impulse, die therapeutische Neutralität aufzugeben12
Gesamt67

4.2 Empirische Auswertung

Zum Zweck der empirischen Auswertung wurden weiters einzelne Items des Fragebogens miteinander in Beziehung gesetzt. Diese Korrelationen werden in Diagrammen einer zweidimensionalen Häufigkeitsverteilung grafisch dargestellt.

Es zeigte sich, daß PatientInnen mit der Diagnose "Neurose" (Angstneurose, depressive Neurose, hysterische Neurose etc.) signifikant häufig von den StudentInnen als "symbiotisch" wahrgenommen wurden - die PatientInnen mit der Diagnose "Psychosomatose" hingegen seltener (Abbildung 2 - Diagramm einer zweidimensionalen Häufigkeitsverteilung).

Wenn man die Kooperationsbereitschaft der PatientInnen mit den Gefühlen, welche die StudentInnen in sich wahrnehmen, in Beziehung setzt, so zeigte sich, daß bei PatientInnen, die als kooperativ wahrgenommen werden, die StudentInnen diesen PatientInnen gegenüber auch positive Gefühle erleben; bei nichtkooperativ erlebten PatientInnen hingegen fühlen sich die StudentInnen "ungeduldig" (Abbildung 3).

Interessant sind auch die Zusammenhänge zwischen der Bedeutung der Motivation der PatientInnen für die Stimmigkeit der Diagnose, die die StudentInnen gestellt haben: wenn die PatientIn als selbstmotiviert wahrgenommen wurde, so war die von den StudentInnen erstellte Diagnose eher in Übereinstimmung mit der Diagnose der Psychiaterin/Psychotherapeutin (Abbildung 4).

Die nächste Korrelation zeigt ebenfalls wieder eine Abhängigkeit der StudentInnendiagnose: wenn der PatientIn selbst die Zuweisung verständlich erschien, so wurde sie richtiger diagnostiziert (Abbildung 5).

Auch zwischen der Motivation der Patientin, ihren Leidenszustand als psychosomatisch mitdeterminiert zu sehen, und der diagnostischen Zuordnung war ein Zusammenhang nachweisbar: die PatientInnen mit der Diagnose "Neurose" waren eher motiviert als jene mit der Diagnose "Psychosomatose". Die Diagnose "Psychosomatose" ist so operationalisiert, daß funktionelle Störungen ausgenommen sind, hingegen sehr wohl ein organisches Substrat vorliegt und für Entstehen und Aufrechterhalten der Erkrankung psychologische und/oder soziale Faktoren mitverantwortlich gemacht werden können. Ein Beispiel dafür wären durch eine Pelviskopie nachweisbare Verwachsungen im kleinen Becken, welche als mitverantwortlich für chronische Unterbauchschmerzen (Chronic pelvic pain) angegeben werden (SPRINGER-KREMSER, 1988).

5. Zusammenfassung

Die wichtigsten Ergebnisse des Versuches, zumindest Grundzüge der zwei wichtigen Wissensbereiche, welche die psychoanalytisch-psychotherapeutische Forschungs- und Behandlungpraxis regeln, nämlich daß Therapie- und Änderungswissen (THOMÄ und KÄCHELE, 1987) den StudentInnen im Wahlfach zu vermitteln, sind folgende:

  • Die Darstellung der Verstrickung der StudentInnen als teilnehmende Beobachter in einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Liaisoneinrichtung bestärken die Forderung nach Sensibilisierung für Übertragungs-, Gegenübertragungs- und Widerstandsphänomene auf Seiten der StudentInnen.

  • Bei der zweiten oder dritten teilnehmenden Beobachtungssitzung - diese fand in der Regel gegen Ende des ersten Semesters oder im zweiten Semester statt - waren die StudentInnen viel eher in der Lage, eine "richtige" in diesem Fall in Übereinstimmung mit der diagnostizierenden Oberärztin stehende Diagnose zu stellen; die Verstrickungen in eigene Gefühle waren entsprechend den Ergebnissen der empirischen Untersuchung mit den Fragebögen, wie dies besonders in Abbildung 4 und 5 dargestellten Abhängigkeiten der StudentInnendiagnose zeigen, waren bei den motivierten PatientInnen für die StudentInnen sehr viel besser kontrollierbar. Motivierte PatientInnen bzw. PatientInnen, welchen die Zuweisung in eine psychosomatische Ambulanz im Rahmen der Frauenheilkunde nachvollziehbar schien, sind schließlich auch PatientInnen, die bei den StudentInnen eher weniger Angst, Beunruhigung, Verunsicherung auslösen.

Dies ist ein grundsätzlich sehr wichtiges Untersuchungsergebnis für die Planung und die didaktische Aufbereitung von Lerninhalten: die Emotionalität der Lernenden, der Lernwilligen als wichtiger fördernder bzw. hindernder Faktor scheint doch immer wieder unterschätzt zu werden.

6. Literatur

CREMERIUS, J.(1984):
Die Psychoanalytische Abstinenzregel. Psyche 38, S.769-800
SPRINGER-KREMSER, M.(1988):
Patientin mit Chronic Pelvic Pain. In: GITSCH, E.; E. REINOLD (Hrsg.): Gynäkologische Rundschau. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Juni, Mayrhofen
SPRINGER-KREMSER, M.(1991):
An approach to psychosomatics in obstetrics and gynaecology for medical students. In: NIJS, P.; B. LEYSEN; D. RICHTER (Eds.): Advanced Research in Psychosomatic Obstetrics and Gynaecology. Uitgeverij Peeters, Leuven
SPRINGER-KREMSER, M.; E. JANDL-JAGER; E. PRESSLICH-TITSCHER; N. NEMESKERI; F. MARITSCH (1994):
Evaluation der psychotherapeutischen Möglichkeiten einer klinisch-psychosomatischen Ambulanz am Beispiel der psychosomatischen Ambulanz der II.Univ.Frauenklinik. Im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, Wien
SHADISH, W. R. Jr.; R. EPSTEIN (1987):
Patterns of programm evaluation practice among members of the evaluation research society and evaluation network. In: Evaluation Review, Vol.11, Nr.5, pp.55-59
THOMÄ, H.; H. KÄCHELE (1988):
Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie. Berlin, Springer-Verlag
WITTMANN, W. W.(1985):
Evaluationsforschung. Aufgaben, Probleme und Anwendungen. Berlin, Springer

Anhang: Fragebogen für ...

WAHLFACH "FOKUSSIERENDE BERATUNG"
(Kurzpsychotherapie)

Semi-strukturierter Fragebogen für die teilnehmende Beobachtung in der psychosomatisch-psychotherapeutischen Ambulanz an der Univ.Klinik für Gynäkologie (Erstgespräch)

1) Selbstdarstellung der Patientin:

eher gehemmt
unauffällig
ängstlich
fordernd
forsch
anders, nämlich:

2) Zuweisung

2.1) Von wem/welcher Institution wurde die Patientin zugewiesen?

2.2) Zuweisungsdiagnose

3) Motivation

3.1) War die Patientin anfangs:

eher selbstmotiviert
weiß nicht
eher fremdmotiviert

3.2) War der Sinn der Zuweisung für die Patientin von Anfang an verständlich?

eher ja
eher nein

3.3) Wurde der Sinn im Laufe des Gesprächs für die Patientin verständlich?

eher ja
eher nein

4) Bestand eine Diskrepanz zwischen dem Zuweisungsbefund/ der Diagnose und den Beschwerden der Patientin?

keine Diskrepanz
geringfügige Diskrepanz
auffällige Diskrepanz

5) Biographische Anamnese
Wichtige Daten und Ereignisse (z.B. "Katastrophen der Kindheit"), "life events"

6) Beschwerden

6.1) Beschreibung der Beschwerden/Symptome, deretwegen die Patientin Hilfe sucht

6.2) Wann traten die Beschwerden/Symptome zum ersten Mal auf? War ein Zusammenhang zwischen Erstmanifestation und Life-Events explorierbar?

6.3) Welche Veränderungen haben die Beschwerden/Symptome im Laufe der Zeit erfahren und wodurch?

7) Warum wird zum jetzigen Zeitpunkt Hilfe gesucht - klare Definition von Fakten, Ereignissen, Überlegungen etc.?

8) Vorbehandlungen (Medikamente - Spitalsaufenthalte - Psychotherapie, etc.)

9) Laienätiologie oder subjektive Krankheitstheorie Kann die Patientin einen Zusammenhang zwischen Symptom und psychologischen und/oder sozialen "Ereignissen" herstellen?

10) Wurde eine Diagnose erstellt? Wenn ja, welche bzw. in welchen diagnostischen Bereich würden Sie die Beschwerden der Patientin am ehesten einordnen?

300.0 Neurose300.0 Angstneurose
300.1 Hysterische Neurose300.2 Phobie
300.3 Zwangsneurose300.4 Neurotische Depression
301 Charakterneurose302 Sexuelle Verhaltensabweichung und Störung
302.7 Frigidität305 Drogen- und Medikamentenmißbrauch
305.4 Tranquilize306 Funktionelle Störungen
306.5 Urogenitalsymptom308 Psychogene Reaktion (akute Belastungsreaktion)
309 Psychogene Reaktion (Anpassungsstörung)316 Psychosomatische Erkrankung im engeren Sinn

11) Beschreiben Sie Ihre subjektive Befindlichkeit während des Interviews


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