Zeitschrift für Hochschuldidaktik Nr. 1-2/1996:
Qualität der Hoschschullehre, Rezensionen
NIEHOFF, Jens-Uwe (Hrsg.):
Sozialmedizin systematisch
Sozialmedizin ist in Österreich seit 1992 ein eigenes Ausbildungsfach zum Facharzt - nach vielen Jahren der Bemühungen um eine Anknüpfung an österreichische Traditionen der Integration der sozialen mit der medizinischen Betreuung. Inhalte der Sozialmedizin flossen nichtsdestoweniger auch vor der Existenz dieses Faches in die ärztliche Tätigkeit in den verschiedenen Versorgungsbereichen ein: z.B. bei Fragen der Erklärung von Gesundheit und Krankheit, der sozialen Ungleichheit vor Krankheit und Tod, der medizinischen Demographie, des Gesundheitswesens, der gesamten Epidemiologie.
Diese Themen bilden auch Schwerpunkte des vorliegenden Lehrbuchs, das als ein Band der Klinischen Lehrbuchreihe des UNIMED-Verlags in der BRD erschienen ist. Der Herausgeber ist Professor für Sozialmedizin am traditionsreichen Universitätsklinikum Charité der Humbodt-Universität Berlin. Die Wechselfälle in der Geschichte der Sozialmedizin in der Nachfolge der Sozialhygiene, die auch in dieser Einrichtung zu verzeichnen sind, sind auch ein Thema des Buches. Im Gegenstandsbereich entstanden dadurch schwer ersetzbare Lücken, um deren Füllung sich der Herausgeber zusammen mit den AutorInnen große Verdienste erworben hat.
"Sozialmedizin systematisch" ist ein Lehr- und Lernbuch sowohl für Studierende der Medizin und ÄrztInnen in fachärztlicher Ausbildung als auch für Angehörige anderer Gesundheitsberufe und von Sozialberufen. Im Gesundheitsbereich ist ja in Österreich wie in anderen europäischen Ländern ein großes Interesse an den verschiedenen Aus-, Fort- und Weiterbildungsgängen zu verzeichnen. Dieser "Bildungsboom" hängt unter anderem mit der Professionalisierung verschiedener Tätigkeitsbereiche und der Akademisierung von Berufen wie etwa den medizinisch-technischen Diensten oder den Hebammen zusammen. Er umfaßt eigene Ausbildungseinrichtungen der Landes-Krankenanstaltengesellschaften, ein bereits kommerzielles Angebot etwa im Bewegungs- und Gesundheitstourismusbereich und reicht bis zur Konzeption von Public-Health-Studiengängen auch in Österreich. Daher besteht ein Bedarf an Lehrmaterialien wie dem vorliegenden Buch nicht nur für die sozialmedizinische Ausbildung, sondern auch für solche Aus- und Fortbildungsgänge.
Das Bildungsinteresse im Gesundheitsbereich wird unter anderem auf die Grenzen der naturwissenschaftlich ausgerichteten klassischen Medizin zurückgeführt - bzw. auf ihr Betreuungsmonopol: Der Wandel des Krankheitensprektrums und gesellschaftliche Veränderungen, die mit einem Rückgang der Kompetenzen des einzelnen Menschen auf gesundheitlichem Gebiet und der Problemlösungskapazitäten der Familie einhergehen, erfordern eine breite Palette von Qualifikationen auf sozialem, ökologischem und pädagogischem Gebiet.
Im Gesundheitswesen selbst stellt z.B. die Betreuung chronisch Kranker und pflegebedürftiger alter Menschen Anforderungen an die Verzahnung der medizinischen mit der sozialen Versorgung und an die Mobilisierung der Selbsthilfekräfte, bei der die interdisziplinäre Aus- und Fortbildung der Gesundheits- und Sozialberufe eine Schlüsselrolle spielt. Bei der Entwicklung der personellen ressourcen für die Bewältigung der Gesundheitsprobleme der Gegenwart und Zukunft muß die Zusammenarbeit der Medizin mit anderen Berufsfeldern besondere Berücksichtigung finden: Analog zur Diversifizierung, Spezialisierung und Professionalisierung in anderen Gesellschaftsbereichen ist die moderne Sozialmedizin noch stärker als in ihrer Anfangszeit auf die Zusammenarbeit mit anderen Professionen und Disziplinen angewiesen.
"Sozialmedizin systematisch" ist sowohl für TheoretikerInnen als auch für PraktikerInnen in der Prävention, im kurativen Bereich und in der Rehabilitation als Lehrbuch und zur Erhellung von Zusammenhängen im Berufsleben zu empfehlen.
Barbara Wintersberger
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